Einstieg ins Ambidextrie-Universum
- Definition
- Warum ist das Ambidextrie-Modell gerade so aktuell?
- Ist Ambidextrie ein Erfolgsmodell?
- Was sind die Hauptziele einer beidhändigen Unternehmensführung?
- Exploitation und Exploration: So funktioniert Beidhändigkeit
- Sequenziell, Strukturell, Kontextuell: Welche Formen der Ambidextrie gibt es?
- Was ist der erfolgversprechendste Ambidextrie-Ansatz?
Ambiwas?
Ambidextrie (wörtlich: Beidhändigkeit, also die Fähigkeit, die linke und rechte Hand gleich gut benutzen zu können) mag für viele lediglich ein weiteres neues Modewort aus der Management-Lehre sein. Das ist ein Irrtum: Der Begriff entstand bereits Mitte der 70er Jahre, als der amerikanische Organisationsforscher Robert Duncan ihn in einer seiner Schriften erstmalig benutzte und damit die Fähigkeit von Organisationen bezeichnete, durch die gleichzeitige Nutzung zweier unterschiedlicher Management-Praktiken mit neuen Marktentwicklungen flexibel umgehen zu können. Popularisiert wurde der Begriff allerdings in erster Linie durch die US-Ökonomen Michael Tushman und Charles O‘Reilly, die die Begriffe „Organizational Ambidexterity“ (ambidextres Unternehmensmanagement) und „Ambidextrous Leadership“ (ambidextre Führung) in die (wissenschaftliche) Diskussion einbrachten.
Kurz und knapp als Video:
Warum ist das Thema Ambidextrie gerade so aktuell?
Seitdem und insbesondere in den vergangenen 20 Jahren ist das Interesse an dieser Managementlehre stetig gewachsen. Dieser rasante Anstieg ist sicher in erster Linie den immer komplizierteren und komplexeren Strukturen und Prozessen in der (post-)modernen Wirtschaftswelt geschuldet: Globalisierung und Digitalisierung waren und sind gewaltige Herausforderungen, an denen selbst große und renommierte Unternehmen bereits scheiterten.
Nachdem die Anwendung vieler anderer Management-Modelle und -Strategien den Unternehmen nicht immer den erhofften Mehrwert erbrachte, erkannten und erkennen viele Entscheidende in öffentlichen und privaten Organisationen in der Ambidextrie einen erfolgsversprechenden Lösungsweg. Denn im Gegensatz zu anderen Management-Strategien, die zumeist zu einem radikalen Wandel in den Organisationsstrukturen und -prozessen aufriefen, verheißt die Arbeit mit der Ambidextrie als Richtschnur einen „goldenen Mittelweg“, auf dem Organisationen Bewährtes nicht ganz aufgeben müssen, sondern dieses vielmehr in einem dynamischen, kreativen und produktiven Spannungsfeld mit dem Innovativen und Neuen weiter optimieren und weiterentwickeln können.
Ist Ambidextrie tatsächlich ein Erfolgsmodell?
So weit, so gut. Aber gibt es denn Beweise, dass diese Managementlehre in der betrieblichen Praxis funktioniert und sie für die Unternehmen bzw. Organisationen ein zentraler Erfolgsfaktor darstellt? Tatsächlich gibt es zumindest bezogen auf Unternehmen der Privatwirtschaft bereits wissenschaftliche Belege, dass die unternehmerische Beidhändigkeit den Markterfolg und die Profitabilität eines Unternehmens nachhaltig stärkt. Ein Meilenstein in der wissenschaftlichen Bewertung der Ambidextrie als Erfolgsfaktor bildete die Meta-Analyse eines Teams der britischen Birmingham Business School, die 2013 erschien (Paulina Junni, Rikka Sarala et al: Organizational Ambidexterity and Performance: A Meta-Analysis). Auf der Basis der Analyse von 25 Einzelstudien der vergangenen Jahre, die insgesamt über 26.000 Unternehmen berücksichtigten, fanden die Autor:innen einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen Ambidextrie und Unternehmenserfolg. Der Erfolg, so die Forschenden, hänge aber sehr von der Fähigkeit der Führungskräfte in den jeweiligen Unternehmen ab, Ambidextrie in ihren Betrieben tatsächlich zu leben und zu denken. Weitere Studien konnten die Befunde dieser Meta-Analyse in der Zwischenzeit weiter stützen.
Was sind die Hauptziele einer beidhändigen Unternehmensführung?
Kern des Ambidextrie-Konzepts ist es, unternehmerische Dynamik und Innovationsfähigkeit auf einem konstant hohen Niveau zu halten – also betriebliche und organisationale Trägheit niemals zuzulassen oder diese zu überwinden, wenn sie da ist. Mit anderen Worten: Mit der Ambidextrie sollen die dynamischen Fähigkeiten einer Organisation erhalten und möglichst auch weiter ausgebaut werden. Denn so können sich Organisationen an Wandel und Veränderung am Markt und in der Gesellschaft nicht nur erfolgreich anpassen, sondern diese sogar aktiv mitgestalten. Beidhändige Unternehmen zum Beispiel sind besser in der Lage, gleichzeitig sowohl in reifen als auch in neuen Märkten profitabel und erfolgreich zu sein.
Vor allem aber bedeutet Ambidextrie die Wiederentdeckung des Prinzips Ordnung. Während die meisten Managementlehren der letzten Jahre die revolutionäre Neuerfindung und damit zusammenhängend die Zerstörung der alten Ordnungen und Hierarchien sowie den Ersatz von Effizienz durch Agilität und Flexibilität einforderten, setzt die Ambidextrie neben dem Faktor Innovation weiterhin auch auf die „traditionellen Werte“: Struktur, Stabilität und damit einhergehend Zuverlässigkeit.
Exploitation und Exploration: So funktioniert Beidhändigkeit
Was aber sind nun die wichtigsten Elemente dieser Managementstrategie? In der chinesischen Philosophie gibt es das Konzept des Yin und Yang, bei dem die entgegengesetzten Weltkräfte bzw. Weltprinzipien einerseits entgegengesetzt sind und sich in unterschiedliche Richtungen bewegen, dennoch aber stets aufeinander bezogen sind und dadurch die Weltordnung stützen. Dieses Grundprinzip ist durchaus mit der Ambidextrie-Philosophie vergleichbar. Anstatt Yin und Yang heißen in der Ambidextrie die komplementären Pole „Exploitation“ (Ausnutzung von Bestehendem und Bewährtem, d.h. das Bestandsgeschäft) sowie Exploration (Erkundung von Neuem und Umsetzung von Innovationen). Dies bedeutet im Klartext: Organisationen sollen sich sowohl um das Operative und die schrittweise Optimierung des Bestandgeschäftsgeschäfts kümmern – also die schrittweise Verbesserung von bestehenden Strukturen, Prozessen, Produkten, Dienstleistungen oder Geschäftsmodellen – als auch ganz neue Wege gehen und innovative Entwicklungen, Leistungen und Produkte schnell und agil vorantreiben. Die Grundidee der beidhändigen Organisationsführung ist es daher, sich Exploitation und Exploration gleichzeitig zunutze zu machen. Das bedeutet mehr, als lediglich das eine zu tun, ohne das andere zu lassen. Die Herausforderung für Organisationen besteht vielmehr darin, die Balance zwischen Exploitation und Exploration zu finden, zwischen Optimierung des Alten und Entwicklung des Neuen. Dies ist umso schwieriger, als Exploitation und Exploration gegensätzlich und widersprüchlich in ihrer Logik gelagert sind: Es gelten unterschiedliche Werte, Ziele, Kriterien für Qualität und Leistung, für Fortschritt und Erfolg. Außerdem konkurrieren die beiden Pole in jeder Organisation um Ressourcen und einen Diskurs darüber, ob man etwas Bestehendes weiter verbessern oder seine Energie gleich in etwas ganz Neues investieren soll.
Deshalb ist die Ambidextrie ein gewagter Spagat, den man nicht einfach „nebenbei“ umsetzen kann. Wie dieser Spagat dennoch gelingt, ist eine Frage der gesamten Organisationskultur. Nicht nur die Leitung und die Führungskräfte, vielmehr alle Beschäftigten müssen bereit sein, mit den vermeintlichen Widersprüchen und Gegensätzen der Ambidextrie-Strategie zu leben und sie produktiv und konstruktiv im Sinne der Organisationsziele umzusetzen.